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einführung von timm starl zu

brigitte gauss
zeit - strukturen gehalten am 26.05.2003

meine damen und herren, liebe freunde, verehrte brigitte gauss,

wenn von fotografie die rede ist, fällt häufig der begriff von der "angehaltenen zeit". es ist ein vollkommen unsinniger terminus, denn die zeit kennt kein einhalten, sie ist ständig in bewegung. auch "momentfotografie" gehört in diese kategorie, wird damit doch suggeriert, die aufnahme würde sozusagen einen teil der vor der kamera ablaufenden bewegung festhalten. doch die fotografie kann nicht etwas festhalten, was es innerhalb der bewegung gar nicht gibt: den stillstand. was wir sehen - zum beispiel in einer sportaufnahme -, ist ein phantom: wir glauben, es handle sich um eine phase innerhalb eines sprunges - aber diese phase kommt niemals vor, denn wie sollte ein mensch während eines sprunges anhalten.
besser wäre es, in der fotografie nicht von angehaltener zeit, sondern von aufgehobener zu sprechen, wobei durchaus die mehrfache bedeutung des wortes aufheben beabsichtigt ist. aufheben meint ja ebenso, etwas aus dem szenario der umgebung oder des geschehens zu lösen als auch für einen späteren zeitpunkt zu bewahren. es sind die musealen fähigkeiten des fotografischen, denn die stücke, die ins museum kommen, werden zunächst aus dem zusammenhang ihres natürlichen daseins gelöst und in den neuen zusammenhang eines schauraumes bzw. eines archivs stellt.
und genau diese beiden aspekte der zeit - genauer: des raumzeitlichen - sind es, die brigitte gauss zu ihrem thema gemacht hat. sie löst gegenstände aus ihrem üblichen bzw. jeweiligen ambiente und führt sie über in einen neuen, einen bildlichen zustand. indem sie zum bild gemacht werden, bleiben sie aufgehoben. die dinge, denen aufmerksamkeit geschenkt wird, sind ebenso sie selbst wie ihr eigenes bild.
die künstlerin bezeichnet ihre arbeiten als ready-mades, und als betrachter denkt man dabei unwillkürlich an die ready-mades von marcel duchamps. doch geht es ihr (wie auch mir, wenn ich ihn erwähne) selbstverständlich nicht um die nähe zu der prominenten figur, sondern um die herkunft des materials, das verwendet wird, und den zustand, in dem es vorgefunden wird. meist sind es fragmente von utensilien und organischen materialien, denen man täglich begegnet. ich zähle einige auf: mehl, reis, algen, radieschenwurzel, gummiringe, luftpolsterfolie, teer, hautcreme, federn, löwenzahlpollen, hanf, staub. wie man merkt, sind es kleinere gegenstände, als sie duchamp verwendet hat, und es wird auch anders mit ihnen umgegangen. denn brigitte gauss kombiniert nicht mehrere stücke miteinander oder montiert sie aufeinander oder an die wand. vor allem aber ist nicht der schock ihr metier, nicht die überraschung, die das publikum beim anblick von dingen des alltags überfallen soll. vielmehr ist ihre argumentation eine verhaltene, stille, auch eine manchmal geheimnisvolle. oftmals ist nicht zu erkennen, worum es sich handelt, was auf den fotos, in den diaprojektionen und leuchtkästen zu sehen ist. da wirkt etwas wie eine mikroskopische aufnahme von zelltierchen, und dann sind es die reste, die ein radiergummi beim gebrauch hinterlässt. die basis der ready-mades ist also nur gelegentlich zu erkennen, was aber nicht von bedeutung ist, denn es handelt sich ja nicht um die dokumentation von relikten, sondern ausschließlich um - bilder.
es geht auch nicht um bloße abstraktion, wie man vermuten könnte, sondern - wie schon erwähnt - um die zeit, die in den darstellungen aufgehoben ist. ergänzend müsste man sagen: um zeit, die sich in den bildern verbirgt. denn brigitte gauss greift mit vorliebe zu materialien, die sich verändern, sobald man sie den zeitläuften aussetzt. das blatt welkt, gummi wird spröde, die blüte dunkelt, die haut der tomate rollt sich an den rändern, marmelade trocknet, manches verliert seinen glanz, anderes setzt schimmel an. was wir zu sehen bekommen, ist das ergebnis eines prozesses des alterns, des vergehens - man könnte es auch positiv wenden und sagen: es sind prozesse des werdens, der schöpfung. neben teilen des ursprünglichen zustandes treten solche eines neuen, der sich nach und nach gebildet hat. auch wenn keine differenzen sichtbar sind: gauss hat die natürlichen wie die künstlich hergestellten stoffe aufbereitet, d.h. isoliert, abgeschnitten, zerteilt, geglättet, liegen lassen, also veränderungen abgewartet, die zwar nicht im einzelnen zu identifizieren sind, aber teil des künstlerischen vorganges ausmachen.
und wenn sie später die projektionsvorführung erleben, dann begleiten sie die künstlerin bei einer art zeitreise: einer reise mit bildern, denen aber immer ein prozedere in bildern vorausgegangen ist. und sie wohnen einer einmaligen vorführung teil, weil bei anderer gelegenheit die bilder anders gereiht sein werden. und auch wenn dies nicht der fall sein würde, wäre das heutige ereignis einmalig. denn die zeit kennt keine wiederholung: in ihr geschieht alles zum ersten und letzten mal.

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