meine damen
und herren, liebe freunde, verehrte brigitte gauss,
wenn von
fotografie die rede ist, fällt häufig der begriff von der
"angehaltenen zeit". es ist ein vollkommen unsinniger terminus,
denn die zeit kennt kein einhalten, sie ist ständig in bewegung.
auch "momentfotografie" gehört in diese kategorie, wird
damit doch suggeriert, die aufnahme würde sozusagen einen teil
der vor der kamera ablaufenden bewegung festhalten. doch die fotografie
kann nicht etwas festhalten, was es innerhalb der bewegung gar nicht
gibt: den stillstand. was wir sehen - zum beispiel in einer sportaufnahme
-, ist ein phantom: wir glauben, es handle sich um eine phase innerhalb
eines sprunges - aber diese phase kommt niemals vor, denn wie sollte
ein mensch während eines sprunges anhalten.
besser wäre es, in der fotografie nicht von angehaltener zeit,
sondern von aufgehobener zu sprechen, wobei durchaus die mehrfache bedeutung
des wortes aufheben beabsichtigt ist. aufheben meint ja ebenso, etwas
aus dem szenario der umgebung oder des geschehens zu lösen als
auch für einen späteren zeitpunkt zu bewahren. es sind die
musealen fähigkeiten des fotografischen, denn die stücke,
die ins museum kommen, werden zunächst aus dem zusammenhang ihres
natürlichen daseins gelöst und in den neuen zusammenhang eines
schauraumes bzw. eines archivs stellt.
und genau diese beiden aspekte der zeit - genauer: des raumzeitlichen
- sind es, die brigitte gauss zu ihrem thema gemacht hat. sie löst
gegenstände aus ihrem üblichen bzw. jeweiligen ambiente und
führt sie über in einen neuen, einen bildlichen zustand. indem
sie zum bild gemacht werden, bleiben sie aufgehoben. die dinge, denen
aufmerksamkeit geschenkt wird, sind ebenso sie selbst wie ihr eigenes
bild.
die künstlerin bezeichnet ihre arbeiten als ready-mades, und als
betrachter denkt man dabei unwillkürlich an die ready-mades von
marcel duchamps. doch geht es ihr (wie auch mir, wenn ich ihn erwähne)
selbstverständlich nicht um die nähe zu der prominenten figur,
sondern um die herkunft des materials, das verwendet wird, und den zustand,
in dem es vorgefunden wird. meist sind es fragmente von utensilien und
organischen materialien, denen man täglich begegnet. ich zähle
einige auf: mehl, reis, algen, radieschenwurzel, gummiringe, luftpolsterfolie,
teer, hautcreme, federn, löwenzahlpollen, hanf, staub. wie man
merkt, sind es kleinere gegenstände, als sie duchamp verwendet
hat, und es wird auch anders mit ihnen umgegangen. denn brigitte gauss
kombiniert nicht mehrere stücke miteinander oder montiert sie aufeinander
oder an die wand. vor allem aber ist nicht der schock ihr metier, nicht
die überraschung, die das publikum beim anblick von dingen des
alltags überfallen soll. vielmehr ist ihre argumentation eine verhaltene,
stille, auch eine manchmal geheimnisvolle. oftmals ist nicht zu erkennen,
worum es sich handelt, was auf den fotos, in den diaprojektionen und
leuchtkästen zu sehen ist. da wirkt etwas wie eine mikroskopische
aufnahme von zelltierchen, und dann sind es die reste, die ein radiergummi
beim gebrauch hinterlässt. die basis der ready-mades ist also nur
gelegentlich zu erkennen, was aber nicht von bedeutung ist, denn es
handelt sich ja nicht um die dokumentation von relikten, sondern ausschließlich
um - bilder.
es geht auch nicht um bloße abstraktion, wie man vermuten könnte,
sondern - wie schon erwähnt - um die zeit, die in den darstellungen
aufgehoben ist. ergänzend müsste man sagen: um zeit, die sich
in den bildern verbirgt. denn brigitte gauss greift mit vorliebe zu
materialien, die sich verändern, sobald man sie den zeitläuften
aussetzt. das blatt welkt, gummi wird spröde, die blüte dunkelt,
die haut der tomate rollt sich an den rändern, marmelade trocknet,
manches verliert seinen glanz, anderes setzt schimmel an. was wir zu
sehen bekommen, ist das ergebnis eines prozesses des alterns, des vergehens
- man könnte es auch positiv wenden und sagen: es sind prozesse
des werdens, der schöpfung. neben teilen des ursprünglichen
zustandes treten solche eines neuen, der sich nach und nach gebildet
hat. auch wenn keine differenzen sichtbar sind: gauss hat die natürlichen
wie die künstlich hergestellten stoffe aufbereitet, d.h. isoliert,
abgeschnitten, zerteilt, geglättet, liegen lassen, also veränderungen
abgewartet, die zwar nicht im einzelnen zu identifizieren sind, aber
teil des künstlerischen vorganges ausmachen.
und wenn sie später die projektionsvorführung erleben, dann
begleiten sie die künstlerin bei einer art zeitreise: einer reise
mit bildern, denen aber immer ein prozedere in bildern vorausgegangen
ist. und sie wohnen einer einmaligen vorführung teil, weil bei
anderer gelegenheit die bilder anders gereiht sein werden. und auch
wenn dies nicht der fall sein würde, wäre das heutige ereignis
einmalig. denn die zeit kennt keine wiederholung: in ihr geschieht alles
zum ersten und letzten mal.
copyright
beim autor
<-- zurück nach oben
|